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56 Art. 221 Abs. 2 lit. b ZPO
Angesichts des klaren Wortlauts von Art. 221 Abs. 2 lit. b ZPO bleibt kein
Raum für einen konkludenten Verzicht auf das gesetzlich vorge-
schriebene Schlichtungsverfahren (Art. 197 in Verbindung mit Art. 198
ZPO) in dem Sinne, dass sich die beklagte Partei einer direkten Klage-
einreichung nicht widersetzt.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Zivilkammer, vom 22. August 2017
in Sachen R. Sch. und X gegen M.G. und P.Sch. (ZOR.2017.31).
3.3.
3.3.1.
Dem Entscheidverfahren geht grundsätzlich ein Schlichtungs-
versuch vor einer Schlichtungsbehörde voraus (Art. 197 ZPO).
Kommt es vor der Schlichtungsbehörde nicht zu einer Einigung der
Parteien ist die beklagte Partei säumig, erteilt die Schlichtungs-
behörde der klagenden Partei die Klagebewilligung (Art. 209 Abs. 1
lit. b und Art. 206 Abs. 2 ZPO). Die Klagebewilligung ist dem
Gericht mit der Klage einzureichen (Art. 221 Abs. 2 lit. b ZPO). Bei
der Klagebewilligung handelt es sich um eine Prozessvoraussetzung
(sofern ein Schlichtungsversuch gesetzlich vorgeschrieben ist; zu den
Ausnahmen vgl. E. 3.3.2. und 3.3.3. hiernach), deren Vorliegen von
Amtes wegen zu prüfen ist (Art. 60 ZPO). Fehlt sie, ist auf die Klage
nicht einzutreten (BGE 139 III 273 E. 2.1 = Pra 2014 Nr. 6;
Leuenberger, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, Kommen-
tar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [im Folgenden: ZPO-
Komm.], 3. Aufl. Zürich/Basel/Genf 2016, N. 4 zu Art. 220 ZPO).
3.3.2.
Ein Schlichtungsverfahren entfällt in den in Art. 198 ZPO auf-
geführten Fällen. Es handelt sich dabei um eine Aufzählung
abschliessender Natur (Honegger, ZPO-Komm., a.a.O., N. 5a zu
Art. 198 ZPO). Die von der Klägerin 1 vor Vorinstanz angehobene
Klage auf Ungültigerklärung eines Testaments gehört nicht zu den in
Art. 198 ZPO aufgeführten Ausnahmen. Die Klägerin 1 geht daher
fehl, wenn sie in der Berufung ausführt, ihre "Einrede/Einsprache"
gegen das Testament benötige keine Klagebewilligung.
3.3.3.
Gemäss Art. 199 Abs. 1 ZPO können die Parteien bei vermö-
gensrechtlichen Streitigkeiten mit einem Streitwert von mindestens
Fr. 100'000.00 gemeinsam auf die Durchführung des Schlich-
tungsverfahrens verzichten. In diesem Fall ist der Klage nicht die
Klagebewilligung, sondern die Erklärung, dass auf das Schlich-
tungsverfahren verzichtet werde, beizulegen (Art. 221 Abs. 2 lit. b
ZPO). In der Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung
(BBl 2006, S. 7221 ff.) wird dazu ausgeführt, dass der Verzicht auf
den Schlichtungsversuch auch konkludent erfolgen könne, indem die
Gegenpartei sich der direkten Klageeinreichung nicht widersetze
(BBl 2006, S. 7329). Ein Teil der Lehre erachtet es dementsprechend
als zulässig, dass das Gericht die Klage zunächst der beklagten Partei
zustellt und nur im Falle von deren Säumnis Protest auf die
Klage nicht eintritt (Egli bzw. Pahud, in: Brunner/Gasser/Schwander,
Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen
2016, N. 8 zu Art. 199 ZPO und N. 23 zu Art. 221 ZPO;
Gasser/Rickli, Kurzkommentar zur Schweizerischen Zivilprozess-
ordnung, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2014, N. 1 zu Art. 199 ZPO;
Infanger, Basler Kommentar zur Zivilprozessordnung, 3. Aufl., Basel
2017, N. 4 zu Art. 199 ZPO; Naegeli/Richers, in: Oberham-
mer/Domej/Haas, Kurzkommentar Schweizerische Zivilprozessord-
nung, 2. Aufl., Basel 2014, N. 35 zu Art. 221 ZPO; Killias, in: Berner
Kommentar, Bern 2012, N. 37 zu Art. 221 ZPO). Andere Autoren
vertreten demgegenüber die Auffassung, dass eine solche Einlassung
nicht möglich ist, da das Vorliegen einer Klagebewilligung bzw. - bei
fakultativem Schlichtungsversuch - einer gemeinsamen Verzichts-
erklärung bei Klageeinreichung eine unabdingbare Prozessvoraus-
setzung ist (Honegger, ZPO-Komm., a.a.O., N. 2 zu Art. 199 ZPO;
Leuenberger, ZPO-Komm., a.a.O., N. 3 zu Art. 220 ZPO und N. 68
zu Art. 221 ZPO; Sutter-Somm, Schweizerisches Zivilprozessrecht,
3. Aufl., Zürich 2017, Rz. 602 und 606). Dieser Auffassung ist zu
folgen, besteht doch angesichts des klaren Wortlauts von Art. 221
Abs. 2 lit. b ZPO, wonach mit der Klage gegebenenfalls die
Klagebewilligung die allfällige Erklärung, dass auf das Schlich-
tungsverfahren verzichtet wird, einzureichen ist, für einen konklu-
denten Verzicht auf das Schlichtungsverfahren kein Raum (ebenso:
Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen vom 28. Oktober 2016
E. 3b/aa [DZ.2016.1]). Es ist somit nicht zu beanstanden, dass die
Vorinstanz davon abgesehen hat, die Klage den Beklagten zuzu-
stellen.